Gabriela Eberhard
hat eine Interpellation zur Beflaggung der Stadt zur Pride 2025 eingereicht.
Vor 1300 Jahren wurde das Kloster Reichenau gegründet, eines der bedeutendsten Klöster der karolingischen Zeit. Grund genug, seine engen Beziehungen zum Kloster St.Gallen aufzuzeigen, aber auch den Wettbewerb, in dem die beiden Abteien gegenseitig im Bodenseeraum standen.
Klostergeschichte Schon 926 bot die Reichenau dem Kloster St.Gallen, das sich in höchster Gefahr befand, ihre guten Dienste an. Es stand der Überfall der Ungarn bevor, nachdem diese in Süddeutschland eingedrungen waren. Abt Engilberg (925 bis 933) liess die kostbaren Schätze der Bibliothek auf die Reichenau verfrachten. Die Klosterinsel im Bodensee galt als sicher vor der wasserscheuen Horde aus Ungarn.
Es war zu erwarten, dass St.Gallen dankbar war für diese grosse Unterstützung. Doch Ekkehard IV berichtete hundert Jahre später in seinen St.Galler Klostergeschichten kritisch zum Verhalten des Inselklosters. Er behauptete, die Bibliothek sei hier nicht in sicherer Obhut gewesen. Bei der Rückführung habe zwar die Anzahl der Bände gestimmt, nicht aber der Inhalt. Damit warf der Chronist den Reichenauern vor, von der Situation profitiert und einige wertvolle Bücher durch weniger wertvolle ersetzt zu haben. Diese kritische Haltung zieht sich wie ein roter Faden durch seine Klosterchronik. Es macht sich hier wohl ein Spannungs- und Rivalitätsverhältnis bemerkbar, das zumindest zu einer Verzerrung der Darstellung geführt haben dürfte.
Abgesehen von der Quelle von Ekkehard IV zeigt sich mit einigen Ausnahmen ein gutes Verhältnis zwischen der Reichenau und St.Gallen. Mit dem Verbrüderungsvertrag aus dem Jahr 800 wurde eine enge Gebetsgemeinschaft für die Mönche geschaffen. Das Funktionieren der Verbrüderung setzte einen regelmässigen Nachrichtenaustausch voraus. Daraus fanden Neuerungen aller Art vom einem zum anderen Kloster statt. Das Galluskloster fiel dabei jedoch als zurückhaltender Empfänger auf. Es schloss sich Reformanstössen der zeitoffeneren Reichenau nicht an, was zu Spannungen führte. Die beiden Abteien wetteiferten während Jahrhunderten um den ersten Platz im alemannischen Umfeld. So wurden sie gegenseitig zu Höchstleistungen angespornt, wobei die Reichenauer häufig einen Vorsprung vor St.Gallen hatten. Mit spitzer Feder versuchten sich die St.Galler Mönche immer wieder im Wettstreit zu behaupten. Ein bekanntes Beispiel ist das Spottgedicht «Über den Pilz» von Notker Balbulus, das die Reichenauer Grossspurigkeit auf die Schippe nahm.
Beide Abteien zeichneten sich durch qualitätvolle Werke der Buchkunst aus. Der fruchtbare geistig-künstlerische Wettstreit in der Buchgestaltung führte auf beiden Seiten zu Höchstleistungen. Ab 950 führte die Reichenau während über hundert Jahren wohl die beste Malschule nördlich der Alpen. Reichenauer Maler waren an der Ausmalung der Residenz des St.Galler Abtes Grimald tätig.
Mit der Eroberung des Thurgaus 1460 verlor Konstanz ein wirtschaftliches Hinterland. Auch durch den Schwaben- oder Schweizer Krieg wurde der Graben zwischen der Eidgenossenschaft und dem rechtsrheinischen Schwabenland tiefer, was auch auf die beiden Abteien abfärbte. Der Bodensee, der die bequemste Verbindung der beiden Klöster darstellte, blieb jedoch als Seeweg für die persönlichen Kontakte weitgehend erhalten.
In neuester Zeit eröffnete die Erhebung der beiden ehemaligen Klöster zum Weltkulturerbe neue Perspektiven. Sie bietet Gelegenheit zu vertiefter Beschäftigung mit der beidseitig reichen Vergangenheit. Vielleicht kann dies auch von den touristischen Organisationen am Bodensee verstärkt wahrgenommen werden.
Beispielhaft dokumentiert der karolingische Klosterplan der Reichenau für St.Gallen, dessen Entstehen von Historikern unterschiedlich von 819 und 825/30 datiert wird, also vor rund 1200 Jahren, einen Idealplan für den Bau einer grossen klösterlichen Einrichtung und die ausserordentlich fruchtbare Verbindung der beiden Klöster. Es handelt sich auch um den ältesten noch erhaltenen Bauplan Europas aus dem Mittelalter. Der Empfänger in St.Gallen war der damalige Abt Gozbert (816 bis 836), der sich intensiv mit baulichen Neuerungen befasste und 830 das sogenannte Gozbert-Münster erbaute. Der Plan besteht aus fünf Blättern aus Schafspergament, auf dem rund 50 Gebäulichkeiten einer Klosteranlage mit 333 erklärenden lateinischen Beschriftungen eingezeichnet sind. Die Planzeichnung sollte dem St.Galler Empfänger vor Augen führen, wie eine Abtei ausgestaltet sein musste, um in den Kreis der Königsklöster wie die Reichenau aufsteigen zu können.
Das grösste und am genauesten gezeichnete Gebäude der Anlage ist die Klosterkirche, an die sich Skriptorium, Sakristei, eine Unterkunft für Gastmönche und Torräume anschliessen, gefolgt von der um einen quadratischen Kreuzgang gruppierten Klausur, dem Bereich der Mönche mit Dormitorium, Refektorium, Latrinenanlagen, Waschraum, Küche, Back- und Brauhaus. Ausserdem gehören ein Gästehaus, die Pfalz des Abtes, ein Hospital und Novizenhaus und zahlreiche Wirtschaftsbauten und Handwerksbetriebe sowie Gartenanlagen dazu. Die Gebäude konnten gesamthaft rund hundert Mönchen und 200 Dienern Platz bieten.
Als Absender des Plans wird Abt Haito vermutet. Als Ratgeber Karls des Grossen hatte er einen hohen Rang inne, war aber doch gleichrangiger Amtsbruder des St.Galler Abtes. Seine Widmung lautete: «Für dich, mein liebster Sohn Gozbert, habe ich diese mit kurzen Bemerkungen versehene Kopie des Plans der Klostergebäude verfasst, womit du deinen Erfindungsgeist üben und worin du auch meine Hingabe erkennen magst; du kannst mir vertrauen, dass ich nicht zaudere, deine Wünsche zu erfüllen. Stell dir nicht vor, dass ich die Aufgabe übernommen habe in der Annahme, dass du auf unsere Weisungen angewiesen bist, sondern glaube eher, dass ich dies aus Gottesliebe und freundschaftlichem, brüderlichem Eifer gezeichnet habe für deine Betrachtung. Lebe wohl in Christus und denke immer an uns, Amen.»
Zweifellos war beim Ausbau des St.Galler Klosters der Idealplan eine Grundlage weiterer Planungen. Doch von einer genauen Umsetzung kann keine Rede sein. Schon das Gozbert-Münster wich stark von den Vorschlägen der Reichenau ab. Später verhinderten auch das beschränkte Territorium und die topografischen Verhältnisse in St.Gallen eine weitreichende Übernahme. Eine bestmögliche Selbstversorgung blieb als Ziel jedoch bestehen. Bei der spätbarocken Klosteranlage hatten sich die Rahmenbedingungen stark geändert. Für die Versorgung waren gesicherte Lieferanten und eigene Ländereien vorhanden. Dem Zeitgeist entsprechend stand auch eine glanzvolle Repräsentation im Vordergrund.
Von Franz Welte
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